Helsana-Report: Versorgung
Qualitätswettbewerb als zentraler Erfolgsfaktor

Der Schweiz wird ein erstklassiges Gesundheitswesen attestiert. Doch welche Belege gibt’s für diese Sichtweise? Landesweite Instrumente zur Messung von Qualität medizinischer Leistungen sind rar. Im Kontext der im schweizerischen Gesundheitssystem tief verankerten Wahlfreiheit ist die Befähigung von Patientinnen und Patienten für eine informierte Wahl von eminenter Bedeutung. Deshalb gilt es auch Transparenz über die medizinische Behandlungsqualität für Patientinnen und Patienten zu stärken. So kann der Qualitätswettbewerb im Gesundheitswesen endlich greifen.


Durch diese Transparenz gelingt es, Fehlversorgung oder Versorgungslücken zu erkennen, wie dieser Bericht exemplarisch zeigt. Derzeit dürfen diese Erkenntnisse aus Datenschutzgründen im operativen Bereich der Krankenversicherer nicht genutzt werden, obwohl sie einen grossen Mehrwert für die Versorgung vieler Versicherter und damit auch für das gesamte Gesundheitswesen bieten können.

 

Aus dem umfangreichen «Helsana-Report: Versorgung», der auch als Download zur Verfügung steht, wurden nachfolgende Fragen exemplarisch herausgegriffen:

  • Werden Vorsorgeuntersuchungen den medizinischen Empfehlungen entsprechend durchgeführt?
  • Erfolgt die medizinische Versorgung von Diabetikerinnen und Diabetiker gemäss den medizinischen Leitlinien?
  • Ist die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Schmerzmitteln angemessen und
  • wie steht es um die Arzneimittelrisiken bei älteren Patientinnen und Patienten am Beispiel der Magensäureblocker?

1. Trotz klarer Evidenz finden deutlich zu wenige Darm-Vorsorgeuntersuchungen statt

Mittels Vorsorgeuntersuchungen kann Darmkrebs früh erkannt werden. Damit entsteht eine gute Chance auf Heilung. Empfohlen werden sie Männern und Frauen zwischen 50 und 75 Jahren. Trotzdem haben in den letzten 10 Jahren nur zwischen 50% und 60% dieser Altersgruppe eine der empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt. Damit liegt die Schweiz deutlich unter dem Zielwert (bis 80%), der für die Darmspiegelung in Studien angegeben wird.

 

Eine Erhöhung der Teilnehmerquote hätte vielerlei positive Effekte: Nebst der Reduktion des individuellen Leids hätte dies auch finanzielle Auswirkungen auf die direkten medizinischen Kosten dieser Erkrankung, welche sich jährlich auf rund CHF 90 Millionen belaufen.

 

Kurz erklärt: Darm-Vorsorgeuntersuchungen

Bei der Darmvorsorge stehen zwei Methoden im Vordergrund: Die Darmspiegelung hat den Vorteil, dass sie nicht nur die Untersuchung des gesamten Dickdarms erlaubt, sondern auch gleichzeitig das Entfernen möglicher Krebsvorstufen. Bei unauffälligen Befunden reicht es, die Untersuchung erst nach zehn Jahren zu wiederholen. Die zweite Methode umfasst die Suche nach verborgenem Blut im Stuhl (FIT-Test). Er sollte alle zwei Jahre wiederholt werden und erfordert im Fall eines positiven Ergebnisses eine Darmspiegelung.

Screeningrate Darm-Vorsorgeuntersuchung


Titel
Text
BE ZH LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU
  • < 50%
  • 51 – 55%
  • 56 – 60%
  • 61 – 65%
  • > 66%
Quelle: Helsana, Hochrechnung auf die gesamte Schweiz (2022)

«Eine US-amerikanische Simulationsstudie hat berechnet, dass die Steigerung der Screeningrate für Darmkrebs innerhalb von fünf Jahren von 58 Prozent auf simulierte 80 Prozent die Krebsinzidenz langfristig um beachtliche 22 Prozent und die Sterblichkeitsrate um 33 Prozent senken könnte. Diese Daten unterstreichen die Wichtigkeit von koordinierten Anstrengungen zur Förderung der Prävention seitens der medizinischen Fachgesellschaften und der Ärzteschaft, seitens Behörden und Versicherern sowie die Bedeutung der Patientenaufklärung.»

Dr. med. Sabrina Stollberg; Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Helsana Gesundheitswissenschaften

2. Diabetiker werden häufig nicht gemäss den medizinischen Leitlinien betreut

Diabetes ist sowohl eine Krankheit als auch ein Risikofaktor für andere Krankheiten. Umso wichtiger ist es, dass es einerseits früh erkannt und andererseits gemäss den medizinischen Leitlinien behandelt wird. Unsere Analyse zeigt, dass im Jahr 2022 nur knapp 40% der Diabetiker gemäss den medizinischen Leitlinien behandelt werden.

 

Kurz erklärt: Diabetes-Therapie gemäss medizinischen Leitlinien

Diabetes ist eine chronische Stoffwechselerkrankung mit weltweit steigender Prävalenz und hoher Krankheitslast. Um Patientinnen und Patienten mit Diabetes optimal zu versorgen, sollte sich deren Behandlung an den Leitlinien von medizinischen Fachgesellschaften orientieren. Zur leitlinien-empfohlenen Diabetesversorgung gehören etwa die regelmässige Untersuchung des Blutzuckers, Blutfett, Nierenstatus oder der Augen. Die Einhaltung der Leitlinie wird Guideline-Adhärenz genannt und ist ein zentrales Qualitätsmerkmal für die Diabetesversorgung.

Diabetiker mit Leitlinien-adhärenter Versorgung




  • adhärent

  • nicht-adhärent



Quelle: Helsana, Hochrechnung auf die gesamte Schweiz (2022)

In integrierten Versorgungsmodellen sind die optimale Koordination und die Kontinuität der Versorgung zentrale Aspekte. Diese wirken sich positiv auf die Einhaltung der Therapie (sogenannte Adhärenz) aus: So war das Hospitalisierungsrisiko für Diabetikerinnen und Diabetiker im integrierten Versorgungsmodell 13% tiefer als im Standardmodell.

Werden die Resultate der einzelnen Diabetes-Qualitätsindikatoren isoliert betrachtet, zeigt sich, dass lediglich 73% der Patientinnen und Patienten die zweimal jährlich empfohlene Blutzucker-Messung sowie die jährlich empfohlene Messung des Lipidprofils erhielten. Bei 70% der Patientinnen und Patienten wurde jährlich der Nierenstatus gemessen und rund 60% nahmen eine augenärztliche Kontrolluntersuchung in Anspruch.

«Da eine Vielzahl evidenz-basierter Empfehlungen zur Kontrolle und Verhinderung von Diabetes-Folgeerkrankungen zur Verfügung stehen, sind Massnahmen zur Qualitätsverbesserung besonders sinnvoll. Die Beurteilung dieser Werte legt ein Verbesserungspotenzial nahe. Im Vergleich zur Qualitätsmessung aus früheren Studien zeigte sich erfreulicherweise eine deutliche Verbesserung aller Qualitätsindikatoren.»

Prof. Dr. med. Oliver Senn MPH; Stv. Institutsdirektor, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin am Institut für Hausarztmedizin, Universität und Universitätsspital Zürich

3. Unangemessene Opioid-Verschreibungen sind bedenklich hoch

Opioide kommen vor allem bei Krebspatientinnen und -patienten zur Schmerzlinderung zum Einsatz sowie während oder nach bestimmten Operationen. Ihr Einsatz bei länger anhaltenden chronischen Schmerzen ohne Krebsleiden ist fraglich und wird von medizinischen Leitlinien nicht empfohlen. Studien aus den USA zeigen, dass gerade starke Opioide mit einem erhöhten Risiko einer Überdosierung und Todesfällen verbunden sind. Die Versorgungsqualität bei Opioid-Verschreibungen muss deshalb transparent sein und streng überwacht werden.

 

Kurz erklärt: Inadäquate Opioid-Verschreibungen

Opioide zählen gemäss WHO zu den starken Schmerzmitteln mit teils hohem Abhängigkeitspotenzial und sollten deshalb mit Vorsicht verabreicht werden. Die von Helsana entwickelten Qualitätsindikatoren für Schmerzpatientinnen und -patienten ohne Krebserkrankung definieren gemäss den medizinischen Leitlinien inadäquate Opioid-Verschreibungen. Als inadäquat gelten Behandlungen mit mindestens zwei schwachen Opioiden oder mindestens ein schwaches und ein starkes Opioid innert drei Monaten.

Im Jahr 2022 wurde einer halben Million Personen innerhalb von drei Monaten zwei oder mehr Schmerzmittel verschrieben. Davon erhielt jede vierte, sprich 125’000 Personen eine gemäss Qualitätsindikatoren inadäquate Opioid-Verschreibung. Diese Grössenordnung ist bedenklich. Angesichts der Häufigkeit und der potenziell fatalen gesundheitlichen Folgen von Opioiden besteht dringender Handlungsbedarf.

 

Inadäquate Opioid-Verschreibungen

500’000 Personen wurden in der Schweiz min. zwei Schmerzmittel verschrieben

 

25% =

125’000 Personen

hatten eine inadäquate* Opioid-Verschreibung

 

*min. zwei schwache Opioide oder min. ein starkes und ein schwaches Opioid


Quelle: Helsana, Hochrechnung auf die gesamte Schweiz (2022)

«Verschiedene Studien haben eine zunehmende Verschreibung von starken Opioiden gezeigt. Starke Opioide werden nicht nur häufiger, sondern auch zunehmend bei Bagatellverletzungen verschrieben. Dies hat potenziell weitreichende Konsequenzen. So war beispielsweise die Verschreibung von Opioiden bei Unfällen mit einer verzögerten Heilung und schlechteren Prognose assoziiert. Die Analyse von Verschreibungsmustern geben wichtige Hinweise auf potenziellen Über- oder Fehlgebrauch von medizinischen Massnahmen sowie Therapien.»

Prof. Dr. med. et phil. Maria Wertli MPH; Direktorin und Chefärztin des Departements Innere Medizin, Kantonsspital Baden; Präsidentin der Qualitätskommission Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin

4. Ältere Menschen sind besonders von Arzneimittelrisiken betroffen

Mit fortschreitendem Alter steigt das Risiko für gesundheitliche Leiden, weshalb ältere Menschen häufiger auf Medikamente angewiesen sind. Die gleichzeitige Einnahme von mehreren Medikamenten birgt das Risiko einer negativen Medikamenteninteraktion und kann mit unerwünschten Ereignissen wie Hospitalisierungen einhergehen. Die Arzneimittelsicherheit sollte deshalb gerade bei älteren, morbideren Personen besonders im Fokus stehen. Beispielsweise sind Magensäureblocker, sogenannte Protonenpumpeninhibitoren (PPI) eines der meist verkauften Medikamente. PPI sind Medikamente, welche die (übermässige) Produktion von Magensäure reduzieren. Die immer häufigere Verschreibung von PPI gilt aufgrund möglicher Nebenwirkungen wie Lungenentzündungen oder Osteoperose als bedenklich.

 

Kurz erklärt: Qualitätsindikator für Protonenpumpeninhibitor (PPI)

Protonenpumpeninhibitoren (PPI) werden für die Behandlung oder Vorbeugung von Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren oder bei Sodbrennen angewandt. Um die Versorgungsqualität in der Grundversorgung transparent abzubilden, wurde der Anteil an Personen mit potenziell inadäquaten PPI-Verschreibungen gemessen. Als inadäquat gilt die jährliche Dosis von 11.5g. Dies entspricht beispielsweise einer Tablette à 40mg Pantoprazol über einen Zeitraum von ca. einem Jahr.

Die Analyse für der PPI-Verschreibungen zeigt bei allen Altersgruppen, aber besonders bei den über 80-Jährigen, grossen Handlungsbedarf: 14% aller über 80-Jährigen erhielten eine potenziell inadäquate PPI-Verschreibung.

 

Inadäquate Verschreibung von Protonenpumpeninhibitoren

  • Min. 1 Verschreibung mit Protonenpumpeninhibitoren

  • Potentiell inadäquate Therapie mit Protonenpumpeninhibitoren



Quelle: Helsana, Hochrechnung auf die gesamte Schweiz (2022)

Risikoausgleich funktioniert und schafft Wettbewerb über Qualität

Der Risikoausgleich sorgt für einen fairen Wettbewerb unter den Krankenversicherern. Die Grundlagen für einen Qualitätswettbewerb unter den Krankenversicherern, um wirksame und innovative Versorgungsmodellen, sind gelegt.

Menschen mit zunehmendem Alter nehmen häufiger medizinische Leistungen in Anspruch. Entsprechend steigen die Durchschnittskosten pro Person mit dem Lebensalter stark an (vgl. Abbildung ohne RA. Da die Krankenversicherer auch bei einer Einheitsprämie im direkten Wettbewerb zueinanderstehen, muss vermieden werden, dass Krankenversicherer gezielt junge, gesunde Versicherte anwerben. Dafür wurde der «Risikoausgleich» geschaffen und im Jahr 2007 im Krankenversicherungsgesetz (KVG) verankert. Mit diesen Ausgleichszahlungen werden die finanziellen Folgen zwischen den Versicherungsbeständen der Krankenversicherern korrigiert, die sich u.a. aus Alterseffekt und chronischen Krankheiten wie beispielsweise Asthma- oder Diabetes-Betroffenen ergeben.

 

Die Abbildung mit RA zeigt diese Korrektur ganz deutlich: Die Kosten gleichen sich über alle Altersgruppen und Krankheitsbilder an. Versicherte mit Asthma/COPD und Diabetes haben einen vergleichbaren Aufwand wie alle anderen Versicherten. Der Risikoausgleich zeigt die gewollte Wirkung: Es gibt keinen Anreiz mehr, Gesunde oder Kranke, Junge oder Alte als Versicherte zu gewinnen.

Risikoausgleich 2020 - 2021



Quelle: Helsana (2022)

Die Anstrengung für eine verbesserte Versorgung der Versicherten rückt dadurch noch mehr in den Fokus und wird zum zentralen Erfolgsfaktor einer Krankenversicherung. Die sinnvolle Nutzung der Abrechnungsdaten für eine bessere Versorgung bietet hierfür viel Potenzial, wie die geschilderten Analysen verdeutlichen.

5. Fazit: Versicherte informieren, befähigen und ihre Gesundheit stärken

Krankenversicherer verfügen über viele Gesundheitsdaten ihrer Versicherten und können so Verbesserungspotenzial in der medizinischen Versorgung aufzeigen.

 

Heute ist den Krankenversicherer aus regulatorischen Bestimmungen verboten,

  • Versicherte individuell über die sinnvolle Darm-Vorsorgeuntersuchung zu informieren,
  • die Diabetikerinnen und Diabetiker auf wichtige Kontrolluntersuchungen hinzuweisen,
  • Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten vor den Risiken von Opioid-Verschreibungen zu warnen,
  • ältere Patientinnen und Patienten über potenzielle Gesundheitsrisiken wie Interaktionen von Medikamenten oder Überdosierungen aufzuklären.

 

Diese Bestimmungen verhindern den vom Gesetzgeber gewollten Qualitätswettbewerb. Helsana fordert daher, dass die Informationen aus den Abrechnungsdaten für eine qualitativ bessere Versorgung eingesetzt werden – zum Wohle der Patientinnen und Patienten.

Haben Sie Fragen?

Gerne helfen wir Ihnen weiter.

Kontakt aufnehmen