Helsana-Report: Corona
Faktencheck zur medizinischen Versorgung während Corona

Während die Schweiz noch Massnahmen gegen das Corona-Virus austariert sowie über Impfungen und die Zweckmässigkeit von Erleichterungen diskutiert, wagen wir einen Blick zurück: Wie war die medizinische Versorgung im ersten Jahr der Pandemie? Die Fakten sind sowohl Kontrapunkt als auch Bestätigung von vielfach und teils spekulativ geäusserten Meinungen und zeigen auf, welchen Einfluss Corona auf unsere Gesundheitsversorgung hatte.

Wie erging es Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf-Beschwerden, chronischen Krankheiten oder auch psychischen Leiden? Hat sich deren Situation verschärft und waren sie medizinisch gut betreut? Der Coronareport wirft einen kritischen Blick auf die Gesundheitsversorgung im Lichte von Corona und liefert neue Fakten. Auf Basis anonymisierter Daten von rund 1.4 Millionen Helsana-Versicherten wird aufgezeigt, wie die Bereiche «Notfallversorgung», «Versorgung von Chronikern», «Psychische Gesundheit» und «Wahlbehandlungen» betroffen waren. Alle Daten und Zahlen sind auf die ganze Schweiz hochgerechnet und damit repräsentativ für die gesamte Bevölkerung. Ergänzend zu diesem Web-Report stehen die vollständigen Analysen als Download zur Verfügung. Diese Gesamtschau ermöglicht eine sachliche Diskussion und legt den Grundstein für weitere Analysen.

 

Leistungskosten und Covid-Hospitalisationen


1. Lockdown
2. Welle
OKP-Leistungen (Mio. CHF)
Anzahl Hospitalisationen
Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Quelle: BAG, Helsana Helsana
Verlauf der Grundversicherungskosten 2020 im Vergleich zu 2019, sowie laborbestätigte Hospitalisationen aufgrund einer Covid-19-Erkrankung. Die verschiedenen Leistungsbereiche können per Menü ein-/ausgeblendet werden.

1. Die Kosten haben sich im Corona-Jahr kaum verändert

Auch die Schweiz wurde im letzten Jahr von den Warnungen der Weltgesundheitsorganisation relativ unvorbereitet getroffen. Es kam vielerorts zu grossen Einschränkungen des privaten, wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens, um das Gesundheitswesen vor einem Kollaps zu bewahren.

So haben die hiesigen Behörden ein sechswöchiges Verbot nichtdringlicher Behandlungen erlassen, um Spitalbetten und personelle Kapazitäten freizuhalten sowie «Stay at home»-Appelle kommuniziert, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Diese Rechnung ging auf: Auch wenn das Gesundheitswesen in gewissen Bereichen am Limit lief, waren selbst in der ersten Welle stets freie Kapazitäten vorhanden. Doch wie schlug sich die Pandemie auf die Kostenentwicklung nieder? Eine erste Schätzung des Bundesrats ergab rund 300 Millionen Franken direkte Kosten für die Grundversicherung durch Hospitalisationen und Tests im Zusammenhang mit Covid. Darüber hinaus fiel ein tiefer zweistelliger Millionenbetrag für ambulante Kosten von Covid-Erkrankten mit Symptomen an.

 

CHF
Testkosten: ca. 50 Mio.
Akutspital Bettenstation: ca. 160 Mio.
Akutspital Intensivstation: ca. 90 Mio.
Total: ca. 300 Mio.
Pandemiebedingte Kosten der Krankenversicherer. Nicht mit eingerechnet sind ambulante Behandlungskosten aufgrund einer Covid-Erkrankung. Quelle: Bundesrat.

«Die Auswertungen von Helsana lassen keine direkten Aussagen zu Unter- oder Überversorgung zu. Es scheint zumindest plausibel, dass sowohl Nötiges wie Unnötiges während dem sechswöchigen Lockdown im Gesundheitswesen reduziert wurde. Generell fragt sich, ob bei den elektiven Eingriffen und der Grundversorgung mittelfristig überhaupt Beeinträchtigungen in der Versorgung stattfanden, da in einer Gesamtjahresbetrachtung wohl vieles nachgeholt werden konnte.»

Prof. Dr. Milo Puhan. Direktor Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich

Die Gesellschaft hat gelernt mit der Pandemie umzugehen

Die Gesamtkosten in der Grundversicherung blieben gegenüber 2019 praktisch unverändert. Während der ersten Welle sanken sie vor dem Hintergrund des Behandlungsverbotes markant (vgl. einleitende Grafik). Zudem waren die Patientinnen und Patienten verunsichert und verhielten sich aus Angst vor einer Ansteckung zurückhaltender. An diese erste Phase schloss sich ein langsamer Anstieg der Kosten an. Die zweite Welle bewirkte keinen nochmaligen Einbruch, obschon sie deutlich heftiger ausfiel als die erste. Das Gesundheitswesen und die Bevölkerung haben im Verlauf des Jahres also gelernt mit Corona umzugehen.

 

In den einzelnen medizinischen Leistungsbereichen entwickelten sich die Kosten jedoch unterschiedlich. In der ersten Welle erbrachten alle Bereiche gegenüber dem Vorjahr deutlich weniger Leistungen. In der Folge hatten einige einen grösseren Rückgang (z.B. Grundversorger oder Spitäler), andere aber kaum Einbussen (z.B. Spezialisten) zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu legten beispielsweise die Laborleistungen sogar zu.

 

 

Kosten Jung und Alt

Allgemein gilt: Je älter die Versicherten sind, desto häufiger nehmen sie Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch und desto höher sind die Durchschnittskosten dieser Personen.

Mehr Junge bezogen medizinische Leistungen, jedoch weniger oft und weniger teure

Allgemein gilt: Mit dem Alter nehmen medizinische Behandlungen zu, und die Durchschnittskosten steigen. Diese Logik bestätigte sich einmal mehr auch im Jahr 2020. Auffällig ist hingegen: Im Vergleich zum Vorjahr stieg bei den Jüngeren (20- bis 49-Jährige) der Anteil an «neuen» Bezügern, also jener Personen mit mindestens einem Leistungsbezug, während die durchschnittlichen Pro-Kopf-Kosten in dieser Altersgruppe sanken. Die behördliche Aufforderung sich testen zu lassen und die Einschränkungen im Gesundheitswesen dürften zu diesem Effekt geführt haben. In diesem besonderen Jahr wäre der Kostenrückgang ohne die zusätzlichen Corona-Leistungen insbesondere bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich höher ausgefallen.

 

Die jüngsten Versicherten unter 10 Jahren generierten 2020 markant weniger Leistungskosten als im Vorjahr. Diese Altersgruppe kam aufgrund der vermehrten Eigenbetreuung durch die Eltern sowie durch die verstärkten Hygienemassnahmen weniger mit Krankheitserregern in Berührung als üblich. Zudem deuten die weiteren Analysen darauf hin, dass auch Routineuntersuchungen und empfohlene Basisimpfungen zumindest teilweise aufgeschoben wurden und dies ebenfalls zu tieferen Kosten führte.

Ältere Menschen konnten weniger auf die reguläre medizinische Versorgung verzichten

Eine Zusatzanalyse unter Ausschluss der Kosten der in den Vergleichsjahren verstorbenen Personen bringt ans Licht: Die Kosten im Jahr 2020 nahmen bei den über 60-Jährigen stetig zu. Je älter, desto grösser die Differenz zum Vorjahr. Die höheren Kosten erklären sich dadurch, dass über 60-Jährige als grösster Teil der Risikogruppe lange Zeit am stärksten von Covid betroffen waren. Deren intensive, langandauernde und damit auch kostspielige Behandlung fiel mit zunehmendem Alter besonders ins Gewicht. Zudem konnten bei der regulären Versorgung weniger Leistungen weggelassen werden als bei den Jüngeren.

Kostenveränderung pro Versicherte


Quelle: Helsana
Veränderung der Leistungskosten pro Versicherte zwischen 2019 und 2020 der Gesamtbevölkerung nach Altersgruppe mit und ohne Ausschluss der Verstorbenen.

2. Telefon- und Video-Konsultationen müssen künftig eine grössere Rolle spielen

Durch die Mobilitätseinschränkungen gleich zu Beginn der ersten Welle mussten andere Wege der Verständigung gefunden werden. Und dies nicht nur im privaten wie beruflichen Leben, sondern gerade auch im Gesundheitswesen.

Hier leistete die (Video-) Telefonie einen wichtigen Beitrag, da sie es in vielen Situationen ermöglichte, den Kontakt zwischen Patienten und Ärzten, Physiotherapeuten oder Psychiatern aufrechtzuerhalten oder Therapien auf Distanz zu ermöglichen.

 

Konsultationen über (Video-) Telefonie sind möglich und gefragt

Telefon- und Videokonsultationen haben beispielsweise auch für die ärztliche Grundversorgung eine wichtige Rolle gespielt. Dies belegt die starke Zunahme solcher Konsultationen insbesondere während des Lockdowns und der Zeit danach.

«In der Krise zeigen sich viele Lerneffekte. Und das ist es, was in den letzten Monaten offensichtlich wurde. Auch wenn es teilweise sehr unschön für Gesellschaft und Wirtschaft war. Nun gilt es die neuen Erkenntnisse nicht zu vergessen und optimal für die Zukunft zu nutzen.»

Prof. Dr. Dr. Thomas Szucs. Verwaltungspräsident Helsana und Direktor Institut für Pharmazeutische Medizin der Universität Basel

Gerade in einer Zeit, die durch eine grosse Verunsicherung und eingeschränkte Mobilität gekennzeichnet war, erwies sich die Telefonie als wichtige Behandlungsalternative. Während solche Behandlungen vor Corona nur zögerlich eingesetzt wurden, gilt es nun aufgrund der positiven Erfahrungen im Jahr 2020 Wege für die Zukunft zu ebnen. Dazu ist eine entsprechende Tarifierung nötig. Fernmündliche Behandlungen führen zu einer effizienteren Versorgung von Problemstellungen ohne zwingende Anwesenheit vor Ort. Sie können beispielsweise zu einer besseren und effizienteren Versorgung ländlicher Gebiete oder weniger mobiler Patientinnen und Patienten beitragen.

Art der Konsultationen beim Grundversorger


1. Lockdown
2. Welle
Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Quelle: Helsana
Veränderung der Anzahl Konsultationen je nach Konsultationstyp bei den Grundversorgern.

3. Die medizinische Versorgung hielt Corona stand

Zur Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitswesens wurden zu Beginn der Pandemie sämtliche nicht-dringlichen Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen untersagt. Allerdings gibt es gesundheitliche Ereignisse, die keinen Behandlungsaufschub dulden und sich nicht durch behördliche Restriktionen aufhalten lassen.

Unsere Analysen widmen sich einigen dieser «Szenarien» und untersuchen, ob sich das Versorgungsgeschehen während der Pandemie verändert hat. Es sind die Bereiche «Notfallversorgung», «Versorgung von Chronikern», «Psychische Gesundheit» sowie «Wahlbehandlungen». Während bei den ersten beiden Themenbereichen kaum mit einer Veränderung im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr zu rechnen ist, lässt der Bereich der Psyche eher eine Zunahme durch Corona erwarten und Wahlbehandlungen einen zumindest zeitweisen Rückgang.

Waren Herzinfarkte im Jahr 2020 häufiger?

Akute Notfälle bedürfen einer unmittelbaren medizinischen Intervention. Im Jahr 2020 wurden jedoch deutlich weniger Herzinfarkte in den Schweizer Spitälern untersucht als im Vorjahr.

Obwohl die Abnahme vor allem während der ersten Welle besonders ausgeprägt war, setzte sie sich auch über den Rest des Jahres fort. Die Fallzahlen in den Spitälern, bei welchen nur diagnostische Abklärungen stattfanden, halbierten sich nahezu über das ganze Jahr hinweg im Vergleich zum Jahr 2019. Nicht inkludiert sind diejenigen Fälle, welchen im Rahmen der Hospitalisation ein interventioneller Eingriff am Herzen (z.B. Koronardilatation/Stentimplantation) folgte.

 

Je schwerwiegender die akuten Herz-Kreislauf-Notfälle, desto geringer war der Rückgang der Fälle. Das gleiche Muster zeigte sich auch bei Blinddarmentzündungen. Je einfacher erkennbar und offensichtlicher also die gravierenden medizinischen Notfälle waren, desto ähnlicher verhielten sich die Fallzahlen zu jenen des Vorjahres. Es ist daher anzunehmen, dass leichtere Fälle mit unspezifischen Symptomen im Jahr 2020 in bestimmten Situationen möglicherweise ungenügend versorgt wurden. Andererseits konnten beispielsweise bei Blinddarmentzündungen weniger schwerwiegende Erkrankungen eventuell ambulant behandelt werden. Durch eine verbesserte Triage zwischen ambulant und stationär konnten womöglich auch Notfälle im Spital vermieden werden.

Der starke Rückgang der Herzinfarkte, welche keine interventionelle Eingriffe nach sich zogen, beruht wohl auf mehreren Besonderheiten des Jahres 2020: Zum einen suchten Patientinnen und Patienten mit leichten oder unspezifischen Symptomen vermutlich aus Angst vor einer Covid-Infektion oder vor einer unnötigen Belastung des Gesundheitssystems kein Spital auf. Zum anderen war die Ärzteschaft aus denselben Gründen womöglich etwas zurückhaltender mit einer Spitalüberweisung. Zusätzlich erschwerten die teilweise telefonisch erfolgten Konsultationen die Diagnosestellung. Durch die Entschleunigung des Alltags aufgrund der «Stay at home»-Appelle erfuhren viele Menschen eine Stressreduktion, was womöglich zum Rückgang dieser Herzinfarkte beitrug. Die verstärkten Hygienemassnahmen verringerten zudem Atemwegsinfektionen, die unter anderem einen Herzinfarkt oder Schlaganfall begünstigen können.

 

 

Hospitalisationen: Herzinfarkte



Quelle: Helsana
Veränderung der in Spitälern untersuchten Herzinfarkte mit und ohne invasive Diagnostik.

«Ähnlich wie bei den ambulanten Kontakten vermieden viele Patient*innen, wenn immer möglich auch die Inanspruchnahme einer Spitalambulanz oder gar einen stationären Aufenthalt. Verstärkt wurde der Effekt dadurch, dass auch bei den zuweisenden Hausärzt*innen und Spezialist*innen bereits weniger Konsultationen stattfanden und somit auch die Zuweisungen durch diese massiv zurückgingen.»

Prof. Dr. Dr. Thomas Rosemann. Direktor Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich

Erfolgten die empfohlenen Kontrolluntersuche bei Diabetikern weiterhin?

Das Therapieverhalten der Diabetiker scheint unabhängig von pandemiebedingten Einschränkungen zu sein, denn deren Betreuung lief in einer Gesamtjahresbetrachtung unverändert weiter.

Menschen mit einer chronischen Erkrankung wie Diabetes bewegen sich üblicherweise regelmässig im Gesundheitssystem. Je nach empfohlener Kontrolluntersuchung verhielten sich jedoch rund 20% bis 50% der Diabetiker, wie bereits im Vorjahr nicht leitlinienkonform bzw. wurden nicht leitlinienkonform durch die Ärzte betreut. Dieser Patientenanteil ist nach wie vor erstaunlich hoch und weist auf ein grosses pandemieunabhängiges Verbesserungspotential hin.

 

 

HbA1c-Wert (2x/Jahr): -2.4 Prozentpunkte 77.3%

Langzeit-Blutzuckerwert. Zielwert von 6.5% bis 8.0%. Messung der Blutzuckerkonzentration der letzten 2-3 Monate und damit die Güte der Kompensation der Zucker-Krankheit. Gilt als Goldstandard bei der Diagnose und Therapiekontrolle von Diabetes, um das Risiko für Folgeerkrankungen zu verringern.


Lipidwerte: +1 Prozentpunkt 65.8%

Blutfettwert. Dient der Diagnose von Fettstoffwechselstörungen. Schlechte Werte begünstigen z.B. Ablagerungen an den Gefässwänden. Ermöglicht eine medikamentöse oder Lifestyle-bezogene Senkung eines Erkrankungsrisikos von Herz-Kreislauf-Problemen.


Nierenfunktion: -0.7 Prozentpunkte 47.5%

Eiweisskonzentration im Urin und Kreatiningehalt im Blut. Messungen für die Prognose und Verlaufskontrolle der diabetischen Nephropathie (schwere Nierenschädigung).


Augenuntersuch: -3.1 Prozentpunkte 45.9%

Erkennung von Gefässschäden an der Netzhaut und möglicherweise im gesamten Körper. Kontrolluntersuchung beim Augenarzt, um Veränderungen an der Netzhaut möglichst früh zu entdecken und somit einer schleichenden Schädigung des Auges entgegenzuwirken (z.B. diabetische Retinopathie, Sehverlust bis Blindheit). Der leichte Rückgang bei den augenärztlichen Kontrollen ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass diese gemäss neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen auch jedes zweite Jahr durchgeführt werden können.


«Eigene Analysen auf der Basis der täglich durchgeführten HbA1c und Blutdruckmessungen in den Praxen zeigen einen Rückgang von Routinekontrollen gerade bei chronisch Kranken, wie Diabetikern oder Hypertonikern. In der vorliegenden Analyse mag dies durch die Jahresperspektive etwas untergehen. Für mögliche künftige Lockdowns wird es wichtig sein, gerade diese vulnerablen Gruppen nicht aus dem Fokus zu verlieren.»

Prof. Dr. Dr. Thomas Rosemann. Direktor Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich

Hat die Pandemie zu einer Zunahme psychischer Krankheiten geführt?

Im Allgemeinen wurden in etwa gleich viele Leistungen in der ambulanten Psychiatrie und Psychologie erbracht wie im Vorjahr.

Die Pandemie soll bei vielen Menschen stark auf die Psyche gedrückt haben und auch die Medien berichteten häufig von einem Anstieg seelischer Leiden. Die Abrechnungsdaten zeigen ein differenzierteres Bild: Da sich die Pandemie sowohl negativ als auch positiv auf das Wohlbefinden der Menschen auswirkte, kann kein eindeutiger Trend, aber eine teilweise Verschiebung zwischen den Behandlungsbereichen festgestellt werden.

 

Kriseninterventionen haben bei den Psychiatern zugenommen

In der ersten Welle, geprägt durch das plötzliche Herunterfahren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, nahm zwar die Behandlung akuter psychischer Krisen durch Psychiater stark zu; gleichzeitig wurden sie bei Hausärzten jedoch weniger nachgefragt. Insgesamt finden mehr Kriseninterventionen bei den Grundversorgern als bei den Psychiatern statt. Insofern fiel der Rückgang bei ersteren stärker ins Gewicht und konnte durch die Psychiater nicht komplett aufgefangen werden. Bei Kriseninterventionen fand daher eine teilweise Verschiebung von der Grundversorgung hin zur Spezialversorgung statt. Der Rückgang bei den Hausärzten könnte mit dem starken Zurückfahren der Praxisaktivitäten während des Lockdowns zusammenhängen. Hinzu kommt: Die Patientinnen und Patienten wandten sich in einer akuten Krise möglicherweise direkt an einen Psychiater, welcher diese schon früh mittels (Video-) Telefonie betreute, was den Zugang erleichterte.

«Es gab eine Verschiebung von Präsenz- zu fernmündlichen Behandlungen. Psychiater und Psychiaterinnen haben die Umstellung wohl schneller vollzogen als Grundversorger, da Psychiatrie und Psychotherapie prädestiniert ist für Telefon- und Videokonsultationen. Durch Grundversorger und Grundversorgerinnen betreute Personen mit schwereren psychischen Leiden wie Schizophrenie, bipolaren Störungen, schweren Depressionen oder komplexen Suchterkrankungen waren von den «Stay at home»-Appellen und behördlichen Einschränkungen auf persönlicher Ebene besonders betroffen. Die Hürden für eine Behandlung waren noch höher als vor der Pandemie und die Betroffenen wurden möglicherweise während des Lockdowns ungenügend medizinisch versorgt.»

Prof. Dr. Erich Seifritz. Direktor und Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich

Kriseninterventionen beim Psychiater


1. Lockdown
2. Welle
Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Quelle: Helsana
Kriseninterventionen bei den Psychiatern.

Im Gegensatz dazu müssen reguläre psychiatrisch-psychologische Erstkonsultationen vor Ort stattfinden, was durch das «Stay at home»-Gebot während der ersten Welle sehr erschwert wurde. So brach die Anzahl Erstkonsultationen in dieser Zeit auch um knapp 40% ein, wohingegen sie während der zweiten Welle leicht über dem Vorjahresniveau lag. In der ersten Welle fanden wohl nur die ganz schweren neuen Fälle den Weg in eine reguläre psychiatrische Betreuung.

 

Kinder und Jugendliche waren besonders betroffen
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie Personen im unmittelbaren Pensionsalter waren psychisch besonders stark durch die Pandemie und die verordneten Massnahmen betroffen. Sie nahmen im Vergleich zum Vorjahr häufiger Leistungen in Anspruch. Diese Bevölkerungsgruppen scheinen durch die Auswirkungen der Pandemie tatsächlich psychisch besonders herausgefordert gewesen zu sein. Ursächlich waren hier vermutlich die Angst vor einer Infektion, resp. Übertragung sowie die soziale Isolation durch die verordneten Massnahmen. Hinzu kommt: Angemessene Therapieplätze für Kinder und Jugendliche waren bereits vor der Pandemie knapp. Insofern ist anzunehmen, dass psychische Störungen und Krankheiten in dieser Altersgruppe trotz Zunahme an Konsultationen gegebenenfalls zu wenig behandelt werden konnten.

 

Wurden Wahlbehandlungen statt nur aufgeschoben gleich ganz aufgehoben?

Wahlbehandlungen sind naturgemäss Leistungen, die plan- und steuerbar sind. Gleichzeitig heisst dies nicht, dass komplett auf sie verzichtet werden kann. Im Lockdown kam es zu einem Verbot nichtdringlicher medizinscher Behandlungen. Es ist daher zu erwarten, dass diese Behandlungen oder Eingriffe baldmöglichst nachgeholt wurden.

Knie-Endoprothesen: Orthopädie verfügt über genügend Kapazitäten

Am Beispiel der Knie-Endoprothesen wird ersichtlich, dass sich die Spezialisten grösstenteils an die behördlichen Vorgaben hielten und die meisten elektiven Eingriffe während des Lockdowns vertagt oder abgesagt wurden. Der Vergleich mit dem Vorjahr zeigt auch: Die verschobenen Eingriffe wurden bis Ende Jahr weitestgehend nachgeholt. Es bestanden offenbar genügend Kapazitäten, um das Vorjahresniveau zu halten. Während der Ferien, welche vermehrt in der Schweiz verbracht oder verschoben wurden, konnten überdurchschnittlich viele Eingriffe erfolgen. Dies bestätigt die vielfach geäusserte Vermutung, dass in der Schweiz Überkapazitäten im Bereich der Orthopädie vorhanden sind.

 

 

Anzahl Knie-Endoprothesen



Quelle: Helsana
Veränderungen beim Einsatz von Knie-Endoprothesen.

Impfungen: Entgegen behördlicher Empfehlungen weniger durchgeführt

Obwohl es sich bei Impfungen um eine vermeintliche Wahlbehandlung handelt, wäre nicht zu erwarten, dass sich die Pandemie auf die vom BAG empfohlenen Basisimpfungen der Kleinkinder auswirkt. Denn weder Eltern noch Kleinkinder zählten in der Regel zu den Risikogruppen, welche sich besonders vor Komplikationen einer Covid-Infektion fürchten müssten. Zudem wurde von Seiten der Behörden kommuniziert, Kontrolluntersuche oder Basisimpfungen wie geplant durchzuführen. Dennoch fand bei gewissen Impfungen während des Lockdowns ein Rückgang statt. Besonders bei den 5-fach-Basisimpfungen vor dem 9. Lebensmonat (Diphtherie, Tetanus und Pertussis, Haemophilus influenzae Typ b und Poliomyelitis) sowie den Masern-, Mumps- und Röteln-Impfungen (MMR) waren Ende Jahr weniger Kinder gegen die entsprechenden Krankheitsrisiken geimpft als im Vorjahr.

Die vermehrte Eigenbetreuung und die reduzierten Kontakte mit anderen Kindern könnten zur Einschätzung geführt haben, dass eine Impfung weniger prioritär wäre und sie deshalb aufgeschoben wurde. Die Impfungen gegen Hepatitis-B, welche Kinder meist im Rahmen einer 6-fach-Impfung erhalten, und gegen Pneumokokken wurden hingegen im Vergleich zum Vorjahr ähnlich häufig verimpft.

 

 

Masern-, Mumps- und Röteln-Impfungen bei Kleinkindern



Quelle: Helsana
Veränderungen bei Masern-, Mumps- und Röteln-Impfungen bei Kindern bis 2-Jährig.

«Impfungen finden typischerweise im Rahmen der empfohlenen Vorsorgeuntersuchung statt. Ein Rückgang der Impfungen lässt vermuten, dass auch die Vorsorgeuntersuchungen zurückgegangen sind. Vorsorgeuntersuchungen ermöglichen unter anderem Entwicklungsrückstände, Symptome ernsterer Erkrankungen und andere Auffälligkeiten frühzeitig zu erkennen und stellen zusammen mit Impfungen eine der wichtigsten Präventionsmassnahmen im Kindesalter dar. Wir sollten uns darum bemühen, dass nicht in Anspruch genommene Präventions- und Screeningleistungen nachgeholt werden.»

Prof. Dr. Julia Dratva. Leiterin Forschung Institut für Gesundheitswissenschaften der ZHAW

Krebs-Screenings: Keine «Krebsepidemie» zu erwarten

Ältere Personen zählen sowohl zur Corona-Risikogruppe als auch ab 50 Jahren zur primären Zielgruppe der Krebsprävention. Standard-Krebsscreenings bei Erwachsenen nahmen während der ersten Welle mit den Behandlungseinschränkungen und «Stay at home»-Appellen markant ab. Dies am ausgeprägtesten bei der Mammographie, wo der Rückgang minus 75% betrug. Diese Zurückhaltung hielt noch eine Weile an, bis im Sommer zwischen den beiden Wellen verglichen mit dem Vorjahr wieder mehr Kontrolluntersuche durchgeführt wurden. Die Vorsorgeuntersuche können zwar als zeitweilig aufschiebbar angesehen werden. Alle drei untersuchten Krebs-Screenings erreichten jedoch übers Jahr betrachtet das Vorjahresniveau nicht mehr: Der Rückgang betrug bei den Brust-, Darm- und Prostatakrebs-Screenings rund 3% bis 7%.

 

Im Idealfall hat die Pandemie zur Optimierung des Triage-Prozesses geführt, sodass Screenings nur bei den empfohlenen Altersgruppen und, im Falle der Prostatavorsorge, nach vorheriger gemeinsamer Entscheidungsfindung mit den Patienten durchgeführt wurden. Werden die Screenings auch in Zukunft noch besser anhand risikospezifischer Faktoren eingesetzt, dürfte die Zahl der für die Betroffenen belastenden falsch-positiven Screenings verringert werden können.

 

 

Brustkrebs-Screenings


1. Lockdown
2. Welle
Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Quelle: Helsana
Anzahl durchgeführter Mammographien.

4. Fazit

Nicht nur die Medizin und Gesundheitsversorgung sind essenziell für die Gesundheit, sondern auch das individuelle Verhalten und die Lebensumstände haben einen erheblichen Einfluss darauf. Dies unabhängig davon, was an finanziellen und materiellen Ressourcen in das Gesundheitssystem fliesst. Aufgrund von Corona hat sich das Verhalten der Bevölkerung verändert. Vielfach nahm beispielsweise das Stressniveau ab, und das gesteigerte Bewusstsein für Hygiene und Abstand führte zu weniger Atemwegsinfekten. Solche Faktoren wirken sich positiv auf eine Vielzahl von Erkrankungen aus.

 

Trotz aller Analysen: «Nackte» Zahlen allein sagen nur wenig über das Ausmass und die Qualität der medizinischen Versorgung aus. Wichtig ist, den Zugang zu notwendigen Behandlungs- und Therapieeinrichtungen auch während einer Periode mit Einschränkungen zu gewährleisten. Es gilt zu vermeiden, dass wichtige Untersuche, Präventionsmassnahmen oder Interventionen unterlassen werden und sich Krankheiten womöglich längerfristig verschlimmern. Die Analysen legen nahe, dass das Gesundheitswesen Corona grösstenteils standhielt und die medizinische Versorgung trotz allem aufrechterhalten werden konnte. Der Helsana-Report zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die medizinische Versorgung der Schweiz liefert eine erste Standortbestimmung. Nun müssen weitergehende Analysen folgen. Wichtigstes Anliegen des Reports ist es, entsprechenden Bestrebungen und Diskussionen eine Basis zu liefern und sie weiter anzuregen. Es gilt daraus jene Erkenntnisse abzuleiten, die zur Förderung einer gut ausgebauten und bezahlbaren Gesundheitsversorgung für alle in der Schweiz beitragen.

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