Helsana-Report: Arzneimittel
Arzneimittelsituation mit Einspar- und Gefahrenpotenzial

Die Kosten für Medikamente stiegen im Jahr 2020 erneut. Obschon eine qualitativ gute Arzneimittelversorgung ihre Berechtigung und ihren Preis hat, gilt es die Entwicklung sorgfältig zu beobachten und korrigierend einzuwirken. Mit dem mittlerweile achten Arzneimittelreport liefert Helsana in Zusammenarbeit mit der Universität und dem Universitätsspital Basel verlässliche Zahlen zu Mengen- und Kostenentwicklungen im Schweizer Arzneimittelmarkt. Wir leisten damit einen wichtigen Beitrag zu mehr Transparenz und schaffen die Basis für fundierte Diskussionen, wie eine hochwertige, sichere und dennoch kosteneffiziente Arzneimittelversorgung gewährleistet werden kann.

Aus dem umfangreichen Arzneimittelreport 2021, der auch als Download zur Verfügung steht, wurden hier nachfolgende Fragen exemplarisch herausgegriffen: Wie haben sich die Kosten für Arzneimittel in der Schweiz im Jahr 2020 entwickelt und worin lagen Unterschiede oder Besonderheiten zu den Vorjahren? Welche Medikamentengruppen trugen hauptsächlich zu diesen Kosten bei? Wo liegen Einsparpotenziale brach und was haben diese mit Biosimilars zu tun? Wie wirkte sich die Corona-Pandemie auf Arzneimittelbezüge aus? Gibt es berechtigte Sorge bezüglich Lieferengpässen für Wirkstoffe? Und letztlich: Wie steht es mit der unterschiedlich häufigen Verwendung eines umstrittenen Schmerzmittels? Diesen spannenden Fragen gehen wir im Folgenden nach.

 

1. Welche Medikamentengruppen verursachen die höchsten Kosten?

 

Kostenwachstum durch fehlende Preisanpassungen bei Indikationserweiterungen

Im Jahr 2020 flossen aus der Grundversicherung insgesamt CHF 7’741 Mio. in Arzneimittel, dies bei einer Anzahl von 118 Mio. Bezügen von 6.45 Mio. Bezügern. Obwohl gegenüber 2019 etwas weniger Medikamente bezogen wurden (-2.2%), stiegen die Gesamtkosten weiter leicht an (+1.2%).

 

 

Übersicht Bezüge, Kosten und Personen mit Medikamentenbezügen

 

Bezüge [in Mio.]

 

Kosten [in Mrd. CHF]

 

Personen mit Medikamentenbezügen [in Mio.]

  • Mann

  • Frau

Quelle: Helsana; Hochrechnung für die gesamte Schweiz (2020)

Die höchsten Arzneimittelkosten generierten wie bereits im Vorjahr, die Gruppe der Immunsuppressiva. Dies sind Medikamente, welche zur Verhinderung von Abstossreaktionen bei Organtransplantationen wie auch zur Therapie diverser Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden. Allein diese Arzneimittelgruppe verursachte im Jahr 2020 absolute Kosten von CHF 1’167 Mio. Auch hinsichtlich Pro-Kopf-Kosten liegen die Immunsuppressiva mit CHF 10’250 an erster Stelle.

 

An zweiter Stelle der Kostenverursacher rangieren die Krebsmedikamente mit CHF 898 Mio. und einer Kostensteigerung von +10.5% gegen über dem Vorjahr. Mit CHF +93 Mio. verzeichneten sie das grösste absolute Kostenwachstum aller Arzneimittelgruppen zwischen 2019 und 2020. Dieser markante Zuwachs ist vor allem auf den monoklonalen Antikörper Pembrolizumab (siehe Erklärbox) zurückzuführen, welcher allein über die letzten beiden Jahre ein Kostenwachstum von rund CHF 80 Mio. verursacht hat. 

 

Die Kosten für Pembrolizumab pro Kopf und Jahr liegen bei über CHF 36’000. Deshalb führen bereits kleine Mengenänderungen, beispielsweise durch Indikationserweiterungen, zu einer sehr grossen finanziellen Belastung des Gesundheitssystems. Diesem Effekt sollte bei der behördlichen Preisfestsetzung Rechnung getragen werden.

 

Kurz erklärt: Kostenanstieg durch Pembrolizumab

Der Wirkstoff Pembrolizumab wurde in der Schweiz im Jahr 2015 zur Behandlung des nicht-resezierbaren oder bereits metastasierten schwarzen Hautkrebses (malignen Melanoms) zugelassen, hat aber seither mehrere Indikationserweiterungen erfahren (u.a. für nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom, Hodgkin Lymphom, Urothelkarzinom), so auch wieder im Jahr 2020. Die sich daraus ergebende Mengenausweitung schlug sich aber bisher nicht in einer signifikanten Preisreduktion nieder.

2. Wo lagen und liegen Einsparpotenziale?

Schlummerndes Einsparpotenzial durch Biosimilars

Biologika sind mittels biotechnologischer Verfahren hergestellte Arzneimittel. Das heisst, sie werden aus oder mit Hilfe von biologischen Organismen hergestellt. Ihr Ziel ist, je nach Wirkstoffklasse, körpereigene Botenstoffe und Eiweisse zu ersetzen, zu ergänzen oder zu blockieren. Nach Ablauf ihres Patentschutzes können andere Hersteller entsprechende Nachahmerprodukte auf den Markt bringen, so genannte Biosimilars (siehe Erklärbox).

 

Bis Ende 2020 waren in der Schweiz 31 Biosimilars für den Gebrauch zugelassen. Das enorme Einsparpotential durch ihre Verwendung im Schweizer Gesundheitssystem ist auch nach über 10 Jahren seit der ersten Einführung eines Biosimilars nahezu ungenutzt und vergrössert sich von Jahr zu Jahr, da aufgrund von Patentabläufen immer mehr günstigere Nachahmerprodukte auf den Markt gelangen.

 

Kurz erklärt: Biosimilars

Biosimilars sind Nachahmerprodukte (wie Generika bei chemisch hergestellten Medikamenten) eines biotechnologisch hergestellten Medikaments. Sie weisen starke Ähnlichkeiten mit den Originalprodukten auf, sind aber um einiges günstiger im Preis als diese. 

Der Marktumsatz aller Biologika, für welche Biosimilars verfügbar waren, betrug im Jahr 2020 insgesamt CHF 474 Mio. Lediglich CHF 70 Mio. (14.8%) davon entfielen auf die Biosimilars. Das Sparpotenzial wurde demnach bei weitem nicht ausgeschöpft. Deutlich wird dies insbesondere im Vergleich mit dem Biosimilar-Markt in Deutschland, wo beispielsweise der Biosimilar-Anteil von Infliximab im Jahr 2020 stolze 70.4% betrug, wohingegen die Biosimilars von Infliximab in der Schweiz nur gerade einen Anteil von 27.9% an den Bezügen erzielten.

 

Durch den konsequenten Ersatz von Biologika durch Biosimilars hätten in der Zeit zwischen 2015 und 2020 rund CHF 275 Mio. eingespart werden können. Allein für den Wirkstoff Infliximab ist ein Einsparpotential von fast CHF 150 Mio. verschenkt worden. 

 

Hinsichtlich der Anteile an Biosimilars unter den bezogenen Biologika bestanden beträchtliche regionale Unterschiede: Die Biosimilarquote der Bezüge variierte zwischen den Kantonen wobei die Quoten in der Deutschschweiz tendenziell leicht höher sind als in der Westschweiz und im Tessin. Bei den abgebenden Leistungserbringern zeigte sich ein geringer Unterschied zwischen der Biosimilarquote der Spitäler (16.4%) und jenen der Ärzte in den Arztpraxen (11.0%). 

 

Biosimilarquote nach Kanton und Wirkstoff


Titel
Text
BE ZH LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU
  • <=10.0%
  • 10.1 - 15.0%
  • 15.1 - 20.0%
  • >20.0%
Titel
Text
BE ZH LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU
  • 0.0 – 10.0%
  • 10.1 – 20.0%
  • 20.1 – 30.0%
  • 30.1 – 40.0%
  • > 40.1%
Quelle: Helsana, Hochrechnung für die gesamte Schweiz (2020)

Die höchsten kantonalen Einsparmöglichkeiten von CHF 13 Mio. respektive 15 Mio. ergaben sich für die Kantone Bern und Zürich. Mit einem Einsparpotenzial von knapp CHF 24 Mio. machte auch hier Infliximab einen Grossteil der theoretisch möglichen Einsparungen aus, wobei allein auf den Kanton Bern über CHF 5.3 Mio. und den Kanton Zürich CHF 4.3 Mio. entfielen. Berappen müssen diese jährlich «verschenkten» Millionen die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler, dies auch, weil sich die meisten Kantone als Spitalbetreiber in dieser Frage offensichtlich passiv verhalten und wenig Einfluss auf ihre Spitäler nehmen. 

 

Um dieses enorme Einsparpotenzial realisieren zu können, muss der entscheidende Fehlanreiz bei der Medikamentenabgabe beseitigt werden: Die Leistungserbringer dürfen nicht mehr verdienen, wenn sie teurere Medikament abgeben. Hierdurch besteht ein direkter Anreiz, teure Originalpräparate anstelle eines kostengünstigeren Biosimilars oder Generikums abzugeben. Dieser Fehlanreiz führt zu enorm hohen und vor allem unnötigen Mehrkosten für das Gesundheitswesen. Zwingende Reformen, wie die Einführung preisunabhängiger Margen (Fixmargen) oder die Gleichstellung der Biosimilars mit den Generika, würden wichtige Anreize zu deren Verschreibung setzen und diesen Missstand endlich beheben. 

«Heute verdienen Leistungserbringer mehr, wenn sie ein teureres Medikament abgeben. Deshalb setzen sich günstige Generika und Biosimilars in der Schweiz nicht durch und ein enormes Einsparpotenzial von jährlich mehreren 100 Millionen bleibt ungenutzt. Um diesen Fehlanreiz zu eliminieren, braucht es Fixmargen, mit welchen die Leistungserbringer stets im selben Ausmass entschädigt werden – unabhängig davon ob Original oder Nachahmerprodukt.»

Mathias Früh, Leiter Gesundheitspolitik & Public Affairs Helsana

3. Wie wirkte sich die Corona-Pandemie auf Arzneimittelbezüge aus?

Mehr Verunsicherung, weniger infektiöse Krankheiten, stabile Krebsversorgung

Das Jahr 2020 war stark durch die weltweite COVID-19-Pandemie geprägt. Wegen der rasch zunehmenden Anzahl der positiv auf COVID-19 getesteten Personen beschloss der Bundesrat im März einen landesweiten Lockdown, welcher auch medizinische Behandlungen einschränkte. Wahleingriffe durften bis zum Ende des Lockdowns am 26. April 2020 nicht durchgeführt und es durfte nur in dringenden Fällen operiert werden. Wie hat sich das Geschehen auf das Bezugsverhalten und den Beginn lebensnotwendiger Krebstherapien ausgewirkt?

 

Die allgemeine Verunsicherung liess Medikamentenbezüge unmittelbar vor dem Lockdown stark zu- und während des Lockdowns wieder stark abnehmen. Vor allem die klassische Hausapotheke wurde dabei aufgerüstet; mit Medikamenten gegen Schmerzen, Husten und Schnupfen sowie Augentropfen. Durch die hohe psychische Belastung und Verunsicherung wurden während des Lockdowns ausserdem vermehrt Psychoanaleptika und Schlafmittel bezogen. Zudem nahmen vor dem Lockdown die Bezüge von Vitamin D3-Präparaten stark zu, weil es Berichte gab, dass Vitamin D einen Schutz gegen Covid-19 böte. Obwohl spätere Studien dem widersprachen, blieben die Bezugszahlen nahezu konstant über dem Niveau der Vorjahre. Während des Untersuchungszeitraums wurden hingegen weniger Medikamente gegen infektiöse Krankheiten wie Grippe und Magen-Darm-Infekte verschrieben, was auf die Kontaktbeschränkungen während des Lockdowns sowie die vermehrten Hygienemassnahmen zurückgeführt werden kann. 

«Die zahlreichen Presseberichte über Medikamente, welche gegen mögliche COVID-19-Infektionen helfen oder diese verschlimmern können, haben in der Bevölkerung zu einer grossen Verunsicherung geführt. Für viele Medikamente gab oder gibt es keine klare Evidenz für einen positiven oder negativen Einfluss auf eine SARS-CoV-2-Infektion. Bei Zweifel an Ibuprofen wurde den Patienten Paracetamol als Alternative vorgeschlagen. Bei ACE-Hemmern wurde den Patienten empfohlen, das Medikament ohne verlässliche Daten nicht einfach abzusetzen. Nach Vitamin D wurde auch vermehrt nachgefragt. Vitamin D wird aber ohne Evidenz immer wieder zur Prävention zahlreicher Gesundheitsprobleme propagiert und die Argumentation ist mitunter sehr emotional.»

Prof. Dr. med. Andreas Zeller, Leiter Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel (UNIHAM-BB), Universität Basel

Bezüge von drei ausgewählten Medikamenten


1. Lockdown
Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Quelle: Helsana; Hochrechnung für die gesamte Schweiz (2019 - 2020)

Bei Krebspatienten wurden auch während des Lockdowns lebensnotwendige Therapien wie Zytostatika- und Immuntherapien begonnen, und es kam nur zu kurzzeitigen Verzögerungen. Aufgrund dessen muss keine Krebsepidemie erwartet werden. 

«Wir haben zu Beginn des Lockdowns mit den Patienten die Situation diskutiert und wo es die klinische Situation erlaubt hat, haben wir systemische Therapien kurzfristig nach hinten verzögert. Zudem war in dieser Zeit nicht klar, ob und wie sich eine mögliche Infektion z.B. auf die Immuntherapie auswirkt. Da uns aber zu jeder Zeit in unserem Spital ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen und für die allermeisten Patienten die Krebskrankheit eine weitaus grössere Gefahr für ihr Leben darstellte als Covid-19, haben wir innert weniger Wochen die Therapien in unveränderter Form fortgeführt.»

Prof. Alfred Zippelius, Stv. Chefarzt Onkologie und Leiter Labor Tumorimmunologie des Universitätsspitals Basel

Krebstherapien vor, während und nach dem Lockdown


1. Lockdown
Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
  • 2019

  • 2020

Quelle: Helsana; Hochrechnung für die gesamte Schweiz (2019 - 2020)

4. Besteht die Gefahr von Lieferengpässen bei Medikamenten?

Politik und Leistungserbringer in der Verantwortung

Wer stand nicht schon einmal in der Apotheke und musste ein «Das ist momentan leider nicht lieferbar» hinnehmen? Oftmals kann rasch eine alternative Lösung gefunden werden, doch in einigen Fällen führt das Fehlen eines bestimmten Präparats zu schwierigen Situationen bis hin zu gesundheitlichen Problemen. Auch in der Schweiz nimmt die Zahl der Lieferengpässe seit einigen Jahren stetig zu. Obschon die Situation im vergangenen Jahr eine besondere war und die Lieferengpässe gravierender und stärker im öffentlichen Fokus standen, muss das Thema allgemein betrachtet werden, da es keine Besonderheit des Corona-Jahres darstellt. Da die Produktionsstandorte vieler Medikamente nicht im eigenen Land liegen und der Schweizer Markt relativ klein ist, ist dieser oft einer der ersten, der unter Lieferengpässen leidet.

 

Ursache des Problems ist ein weltweiter Rückgang der Hersteller. Dadurch konzentriert sich die Produktion auf wenige oder gar nur einen einzelnen Standort. Auch aufgrund der Globalisierung, des steigenden Kostendrucks sowie regulatorischer Auflagen wurden Teile der Wirkstoffproduktion in den vergangenen Jahren in den asiatischen Raum verlagert. Fällt unter diesen neuen Gegebenheiten ein Standort aus oder vermeldet eine Verzögerung in der Produktion, kommt es rasch zu einem weltweiten Engpass.

 

Bereits im Jahr 2019, welches noch nicht durch die Covid-19-Pandemie geprägt war, herrschte für insgesamt 673 Produkte von 371 Wirkstoffen der Kategorie der verschreibungspflichtigen Medikamente aus der Spezialitätenliste (SL) ein Lieferengpass. Dies entspricht knapp einem Drittel aller in der SL enthaltenen Wirkstoffe dieser Abgabekategorien. Bei einem Grossteil handelte es sich um einen länger andauernden Lieferengpass von mehr als sechs Wochen.

Ein Viertel aller Lieferengpässe betraf Produkte, welche auf das Nervensystem wirken. Darunter fallen beispielsweise Antidepressiva, Antiepileptika und Antiparkinsonika, aber auch Analgetika oder Anästhetika. Ebenfalls stark betroffen waren Produkte mit Wirkung auf das kardiovaskuläre System, welche für viele Patientinnen und Patienten überlebenswichtig sind.

 

Glücklicherweise waren die Lieferengpässe grösstenteils wenig kritisch, da noch andere Packungsgrössen oder Dosierungsstärken zur Kompensation vorrätig waren. Fast ein Drittel erwies sich jedoch als sehr kritisch, da jeweils nur ein Präparat auf dem Schweizer Markt verfügbar ist. Trotz Lieferengpässen konnten zwischen 50% bis 90% der betroffenen Patienten auch noch nach Beginn des Engpasses mindestens einmal ein betroffenes Präparat beziehen.

 

Verteilung der von einem Lieferengpass betroffenen Präparate

  • Wenig kritisch

  • Kritisch

  • Sehr kritisch

Quelle:  Helsana; Hochrechnung für die gesamte Schweiz, nach anatomischer Gruppe (2019)

«Die Art der Auswirkung unterscheidet sich bei Medikamenten für die Akuttherapie und für die chronischen Therapien. Bei Akuttherapien kann in der Regel vor der Behandlung entschieden werden, welche Arzneimittel eingesetzt werden. Das ist zwar auch anspruchsvoll und in manchen Fällen auch risikobehaftet, es müssen jedoch nicht laufende Therapien umgestellt werden. Bei den chronischen Therapien ist ein Lieferengpass deutlich komplexer, weil unter einer laufenden Therapie innert kürzester Zeit neue Entscheide getroffen werden müssen. Patientinnen und Patienten erscheinen meistens dann in der Apotheke oder in der Arztpraxis, wenn das Medikament fast aufgebraucht ist. Es wird insbesondere dann komplex, wenn ganze Wirkstoffe fehlen. Das heisst die Patientinnen und Patienten müssen unter laufender Therapie neu eingestellt werden.»

Dr. pharm. Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler fmi ag (Frutigen, Meiringen Interlaken), Betreiber der Website Drugshortages.ch

Zwar konnten in der Vergangenheit bei Lieferengpässen stets geeignete Lösungen gefunden werden. Diese führen aber zu einem beachtlichen Mehraufwand, den es zu verhindern gilt. Ausserdem ist die Zunahme von Lieferengpässen besorgniserregend. Die Industrie und Politik sind deshalb gefordert, gemeinsam mit den Leistungserbringern innovative Lösungen zu erarbeiten, um die Versorgungslage zu verbessern und zu sichern. 

5. Wie steht es mit der Verwendung eines umstrittenen Schmerzmittels?

Risiko-Nutzen-Abwägungen mit unterschiedlichen Einschätzungen

Das Abwägen von erwünschter und unerwünschter Wirkung eines Arzneimittels ist essenziell für seine Zulassung. Diese Risiko-Nutzen-Abschätzung erfolgt sorgfältig auf Basis fundierter Erkenntnisse zum Wohle der Patientinnen und Patienten.

Wegen des erhöhten Risikos für Agranulozytose (siehe Erklärbox) wurde beispielsweise Metamizol in verschiedenen Ländern vom Markt genommen oder gar nicht erst zugelassen. Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass Metamizol in der Schweiz nach wie vor zu den am häufigsten bezogenen Schmerzmitteln gehört und ähnlich häufig verschrieben wird wie klassische nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR, siehe Erklärbox) oder Paracetamol.

Kurz erklärt: Agranulozytose

Die Agranulozytose ist definiert als massiver Abfall weisser Blutzellen (Leukozyten), welche eine wichtige Rolle im Immunsystem spielen. Das dadurch entstehende stark erhöhte Infekt-Risiko führt bei schätzungsweise 5% der betroffenen Patienten zum Tod.

Andere allfällige unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Metamizol sind bisher weniger gut untersucht. Man geht jedoch davon aus, dass Metamizol die Nierenfunktion kaum beeinflusst und dass keine unerwünschten kardialen Arzneimittelwirkungen vorliegen. Auch das Risiko für gastrointestinale Blutungen und Magenschleimhautläsionen wird als kleiner eingeschätzt als bei klassischen NSAR. Jedoch erhärtete sich in den letzten Jahren der Verdacht, dass Metamizol in seltenen Fällen zu akuten Leberschädigungen führen kann. 

«Metamizol zählt zu den am meisten verschriebenen Schmerzmitteln in der Schweiz. Das Medikament kam in den 70er Jahren in den Verruf, da unerwünschte Wirkungen auf das Blutbildungssystem (Agranulozytose) entstehen können. Mittlerweile ist bekannt, dass die Agranulozytose unter Verwendung von Metamizol nur ein sehr seltenes Ereignis darstellt und einer hohen Wirksamkeit und guten Verträglichkeit gegenübersteht. Gemäss dem WHO Stufenmodell der Schmerztherapie steht Metamizol – nach Paracetamol und Ibuprofen - als nicht-opioides Schmerzmittel auf der ersten Modellstufe bei der Behandlung von Fieber und Schmerzen. Die Risikoeinschätzung von Metamizol variiert zwischen der Schweiz und anderen Ländern und ist aber bis anhin nicht abschliessend geklärt.»

PD Dr. Carola A. Huber MPH, Leiterin Gesundheitswissenschaften Helsana

Kurz erklärt: Nichtopioide Analgetika (NOA) und Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)

Nichtopioide Analgetika (NOA) werden zur Behandlung von milden bis moderaten Schmerzen sowie zur Entzündungshemmung und Fiebersenkung eingesetzt. Zu den NOA zählen die klassischen nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR, z.B. Diclofenac, Ibuprofen und Mefenaminsäure), Cyclooxygenase-2-Inhibitoren (Coxibe), Paracetamol sowie Metamizol. Die Bezüge aller NOA in der Schweiz sind zwischen 2006 und 2013 um 25% bis 237% angestiegen.

Bezüge von Metamizol, Ibuprofen, Diclofenac, Mefenaminsäure, Etoricoxib und Paracetamol

Quelle:  Helsana; Hochrechnung für die gesamte Schweiz, Bezüge pro 100‘000 Personen (2014-2019)

Schweizweit nahmen die Bezüge von Metamizol zwischen 2014 und 2019 um 44% zu, während die Bezüge aller NOA in der gleichen Zeitspanne lediglich um 6% zulegten. Metamizol wurde im Durchschnitt 20’136 mal pro 100’000 Personen bezogen. Bei 88.3% der Metamizol-Bezüge reichte die bezogene Menge pro Jahr für eine maximale Therapiedauer von 30 Tagen (bei einer angenommenen Tagesdosis von 3g). Zudem bezogen 78% aller Bezüger lediglich 1 bis 2 Packungen Metamizol pro Jahr. Metamizol gelangt somit mehrheitlich für kurzfristige Anwendungen zum Einsatz.

 

Interessanterweise herrschen bei der Anzahl Metamizol-Bezüge in der Schweiz starke regionale Unterschiede. In französisch- und italienischsprachigen Kantonen wurde Metamizol deutlich weniger häufig bezogen als im Schweizer Durchschnitt (Genf -93%, Waadt -76%, Wallis -62%, Jura -54%, Neuenburg -46%, Freiburg -43%, und Tessin -40%). Dafür gab es in diesen Gebieten mehr Bezüge von Ibuprofen, Paracetamol und Etoricoxib.

 

 

Prozentualer Unterschied der Bezüge von Metamizol, Ibuprofen und Paracetamol


Titel
Text
BE ZH LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU
  • > +25.0%
  • +10.1 bis +25.0%
  • -10.0 bis +10.0%
  • -25.0 bis -10.1%
  • < -25.0%
Titel
Text
BE ZH LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU
  • > +25.0%
  • +10.1 bis +25.0%
  • -10.0 bis +10.0%
  • -25.0 bis -10.1%
  • < -25.0%
Titel
Text
BE ZH LU UR SZ OW NW GL ZG FR SO BS BL SH AR AI SG GR AG TG TI VD VS NE GE JU
  • > +25.0%
  • +10.1 bis +25.0%
  • -10.0 bis +10.0%
  • -25.0 bis -10.1%
  • < -25.0%
Quelle: Helsana; Hochrechnung für die gesamte Schweiz, Bezüge pro 100’000 Personen verglichen mit dem Schweizer Durchschnitt nach Kantonen (2019)

Für viele verschreibende Fachleute spricht für Metamizol, dass es die genannten klassischen unerwünschten Wirkungen der nonsteroidalen Antirheumatika (NSAR) oder deren Kontraindi­kationen nicht hat. Hingegen hält das unklare Risiko einer mit Metamizol in Verbindung ge­brach­ten Agranulozytose andere Verschreiber von seiner Verwendung ab.

 

Eine evidenzbasierte Therapieentscheidung für oder gegen Metamizol (vs. Alternative NOA) ist aufgrund bisher unzulänglicher Daten allerdings nicht möglich.

Haben Sie Fragen?

Gerne helfen wir Ihnen weiter.

Kontakt aufnehmen